Für den Menschen
- Oliver Nagel
- vor 2 Tagen
- 2 Min. Lesezeit
Wer schon mal auf der Biennale in Venedig war und dann das Ausstellungsgelände durch einen Hinterausgang verlassen hat, ist womöglich zufällig auf ein Viertel gestoßen, das ich bei meinem letzten Besuch das interessanteste fand: Sant'Elena, ganz im Südosten der Sestiere gelegen – und ein Neubaugebiet der Stadt.
"Neubau" natürlich im Sinne von: nicht historisch zur Altstadt gehörig, sondern erst in den Jahren 1925 bis 1939 dort erbaut, auf einer "Sacca", also einer künstlich aufgeschütteten Insel. Deshalb auch versteckt hinter einem zum Wasser hin vorgelagerten Grüngürtel, der das Viertel nicht nur mit frischer Luft versorgt, sondern auch den Blick vom Wasser nicht von der Stadtsilhouette ablenkt, die sich seit Canaletto kaum mehr verändert hat.

Dabei unterscheidet sich das Viertel gar nicht so sehr von der Altstadt. Zwar gibt es keine Kanäle und keine Sackgassen, wie sie Venedig sonst typischerweise in große Zahl hat. Aber wo es in der Altstadt da und dort sogenannte "Rii terrà" hat, also vormalige, später zugeschüttete und zu Gassen verbaute Kanäle, gibt es in Sant'Elena ähnlich gebaute breite Pflasterwege mit einem erkennbar abgesetzten "Bürgersteig" und einer mittigen "Fahrbahn" ... auf der halt nichts fährt. Warum aber baut man die Straße dann so?
Weil das ganze Viertel in einem historistischen Stil errichtet wurde: Einem, der sich an den venezianischen Architekturstilen orientiert, hie den byzantinisch-gotischen Fenstern, die in ganz unregelmäßigen Achsen angeordnet sind, also nicht ordentlich übereinander und nicht horizontal symmetrisch, da mit venezianischen Fenstern (das sind große Rundbogenfenster, die links und rechts von zwei kleineren rechteckigen flankiert werden), Giebeln aus der Renaissance, Balkenfries, dem ganzen Stilvorrat eben, der so vorhanden ist in Venedig. Aber reduzierter. Klarer. Moderner. Und abnehmend, je weiter man in den Nordosten dieses Viertels vordringt.
Dieses Viertel liegt Tag und Nacht menschenverlassen da, was aber nicht heißt, dass es unbewohnt wäre. Es hat nur etwas enorm kulissenhaftes für unsere mitteleuropäischen Begriffe, weil all das fehlt, was uns im Stadtbild vollkommen naturgemäß anmutet:
Autos (und Fahrräder!). Werbung. Neonschilder. Bürohäuser. Supermärkte. Überhaupt: Ladengeschäfte, die über Bäckerei und Blumenladen hinausgehen. Es ist nicht zugestellt, nicht nachträglich vollgeknallt mit Kiosken hier und Plakatflächen da, Sonnenschirmen, Litfaßsäulen, Telefonzellen, Zeitungsständern und E-Scootern. Es ist einfach ... für die Menschen.
Das macht dieses Viertel gradezu retrofuturistisch: Architektur als Leinwand für Menschen! Als Kulisse für den Alltag! Nicht als Funktionsträger für Kapitalismus-Abwicklung!
Friedhof! höre ich da den geneigten Leser unken, aber: Warum denn nicht? Ich war in letzter Zeit oft genug auf welchen, dass ich auch dort denke: Wie schön es ohne den ganzen brüllenden Konsum-Müll ist! Nichts kaufen oder verkauft bekommen müssen! Und dann noch (z.T. sogar gut) angezogene Menschen, die nicht in Funktionsklamotten oder Unterwäsche (T-Shirt, Shorts) in die Öffentlichkeit gehen! Warum lassen wir diese Wohltat eigentlich nur Toten zukommen? (Gut, ich gebe zu, auch auf Friedhöfen sieht man immer öfter Menschen in schlimmen Anziehsachen – und sogar hin und wieder auf Fahrrädern.)
Sant'Elena, Friedhöfe: Architektur für Menschen, ja. Nicht für Autos. Was für ein Luxus.
In Venedig kommt es einem übrigens dann doch nicht vor wie auf einem Friedhof. Dafür lieben Italiener es doch zu sehr, in gehobener Lautstärke zu kommunizieren. Und wer bin ich, dass ich gegen das laute Reden mit und zu Menschen wäre!
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